Bilanzkräftige Kapitalinteressen

So ein Zirkus

Werbesäule mit Zirkusplakat.
In einem Jahr tritt in Ger­resheim der Cirque du Soleil auf der Brache der Glas­hütte auf. Die fein­füh­ligen Zuschauer erwarten kunst­volle Auf­tritte, die Artisten in dop­peltem Sinne sichere Arbeits­plätze und die mil­li­ar­den­schweren Inves­toren ansehn­liche Profite.

Auf der Indus­trie­brache der ehe­ma­ligen Ger­res­heimer Glas­hütte startete im August 2005 ein mehrere Jahre dau­erndes Schau­spiel: der Abbruch und die Dekon­ta­mi­nation (Boden­ent­giftung). Knapp 15 Jahre später bietet der welt­be­rühmte Cirque du Soleil ein Spek­takel der ganz anderen Art und diver­gie­render Per­so­nal­be­setzung an. Vor­aus­sicht­licher Beginn im großen weißen Zir­kuszelt an der Heye­straße 178, gegenüber dem Ger­res­heimer Bahnhof: 19. Dezember 2019. Ende der Ver­an­staltung: 19. Januar 2020 Kar­ten­vor­verkauf mit einem Jahr Vorlauf ab sofort.

Unter dem Titel «TOTEM» wird in der Eigen­werbung eine «Show ohne­gleichen» ange­boten. Es gibt eine «Feier der mensch­lichen Errun­gen­schaften in ihrer feinsten Form». Gemeint ist «die Ent­wicklung des Men­schen von seinen amphi­bi­schen Ursprüngen bis zum neu­zeit­lichen Traum vom Fliegen.»

Der Preis schwankt zwi­schen 37 € und «Special-Tickets» für 171 €, für Kinder im Alter zwi­schen 2 und 12 Jahren: 26 € bis 81 €. Außerdem zu buchen: Cocktail Empfang, Menü, VIP-Bereich. Und damit die VIP-Karten-Inhaber nicht mit Inhabern «bil­liger» Karten kon­fron­tiert werden, gibt es einen Zugang zur VIP-Suite über einen sepa­raten Eingang. – Die Ticket­preise in Las Vegas weichen davon ab – in Dollar – nach oben. Anders die Preis­ge­staltung im Düs­sel­dorfer Schau­spielhaus: Bertolt Brechts Drei­gro­schenoper ist bil­liger. Dafür gibt es ein anderes Problem: Die Auf­füh­rungen sind über Monate aus­ver­kauft. So viel Zeit hat der Zirkus nicht, um seine Gewinne einzufahren.

Hinter den Ticket-Preisen ver­bergen sich beim Cirque du Soleil eine knall­harte Kal­ku­lation und bilanz­kräftige Kapi­tal­in­ter­essen, die nichts mehr mit anrüh­render Zir­kus­ro­mantik zu tun haben. Guy Lali­berté gründete das Unter­nehmen 1984. Sein Sitz ist in Mon­tréal (Kanada). Zehn Prozent hält die Provinz Québec (eben­falls: Kanada). Der Rest wurde zum Verkauf ange­boten, weil das Unter­nehmen anhaltend rote Zahlen schrieb, ver­ur­sacht durch die Tourneen in Europa und Asien. «Tra­pez­künstler» im Hin­ter­grund: TPG Capital (Fort Worth, USA) und Fosum Capital (Shanghai und Hongkong, China). Die Höhe der Ver­kaufs­summe war auch dem Han­dels­blatt nicht zugänglich. Geschätzt wird das Gesamt­un­ter­nehmen von «n‑tv» auf bis zu zwei Mil­li­arden Dollar. Das Management erkannte – wie immer und überall –, dass beim Per­sonal «gespart» werden muss. Es gab einmal 5.000 Stellen. 1000 wurden gestrichen. Durch Europa und Asien touren noch 1300 Künstler.

Der Per­so­nal­be­stand und die Ent­las­sungen des Zirkus’ deckten sich zeit­weilig fast mit denen der Glas­hütte, die als welt­größte Glas­hütte im Renommee – wenn auch in einem ganz anderen Geschäftsfeld – durchaus mit­halten konnte, bis sie von etwa 6000 Beschäf­tigten auf eine Handvoll für die Bewa­chung des abge­räumten Geländes sank. Und diese Security bildete kein Stamm­per­sonal. Sie war ausgelagert.

So wie die Ger­res­heimer Glas­hütte kein her­kömm­licher Betrieb in der weltweit agie­renden Glas­in­dustrie von Owens Illinois Inc. war, so war der Cirque du Soleil – global betrachtet – «nie ein Cirkus im her­kömm­lichen Sinn, sondern eine Show für Schi­cki­Mi­ckiPseudo-Cir­cus­freunde à la Hol­lywood… alleine schon von der Preis­struktur her mit dem täg­lichen Ueber­le­bens­kampf hie­siger ‹echter› Cir­cus­un­ter­nehmer nicht zu ver­gleichen.» So steht’s in der Berner Zeitung in der Schweiz. Ein anderer Leser schreibt: «CdS ist das Opfer einer völlig ufer­losen Kom­mer­zia­li­sierung und selbst­mör­de­ri­scher Expansion auf Teufel komm raus. Schade um den Zauber der frühen Jahre.»

Der Regelsatz bei Hartz IV wurde von der CDU/C­SU/SPD-Bun­des­re­gierung zum 1. Januar 1919 um 8 Euro auf 424 Euro ange­hoben. Zum Regel­bedarf nach Hartz IV (Regel­be­darfs­er­mitt­lungs­gesetz § 5) gehört an viert­letzter Stelle die Abteilung 9: «Freizeit, Unter­haltung, Kultur». Die Summe dafür beträgt pro Tag etwa 1 Euro, das waren zuletzt pro Monat 37,88 Euro. Bei der Ermittlung des Regel­be­darfs dürfte, so fürchtet die DKP, der Besuch des Cirque du Soleil auch theo­re­tisch nicht in Betracht gezogen worden sein. Dabei wäre es wohl zu einer unzu­läs­sigen Gewichtung von Kultur und Spaß­faktor gekommen…

Uwe Koopmann
Foto: Bettina Ohnesorge