«Geburtsstunde unserer Demokratie»

Die Novem­ber­re­vo­lution sei die «Geburts­stunde unserer Demo­kratie». Was sagt uns das über diese Demokratie?

Demonstranten mit roten Fahnen.
Lieb­knecht-Luxemburg-Demo 2014

Ihr Staat, unsere Toten

Vor allen Wahl­lo­kalen waren Posten mit Stahl­helmen, Hand­gra­naten und Schuss­waffen auf­ge­stellt worden», berichtete eine Zeitung über die Wahl zur Natio­nal­ver­sammlung am 19. Januar 1919 in Berlin. Regie­rungs­truppen mit Kanonen, Patrouillen mit Maschi­nen­gewehr auf dem Auto: Das war die Kulisse für die Abstimmung, die den Terror gegen die Revo­lution legi­ti­mieren sollte und die die SPD-Führer zum Höhe­punkt der Revo­lution erklärten. 

Par­lament statt Räte, Frei­korps statt Volks­armee, statt Sozia­lismus das Ver­sprechen auf «Sozia­li­sierung» – und kapi­ta­lis­tische Aus­beutung unter Mit­ver­waltung der SPD. Diese Wahl und diese Revo­lution nennen Main­stream-Medien und ‑Aka­de­miker die «Geburts­stunde der deut­schen Demokratie».

Die rechten Truppen, mit der SPD-Führung ver­bündet, hatten eine Woche vor der Wahl den Auf­stand nie­der­ge­schlagen, mit dem einige hun­dert­tausend strei­kende und einige tausend bewaffnete Arbeiter die Revo­lution gegen das Bündnis aus rechten Gene­rälen und angeb­lichen Sozia­listen ver­tei­digen wollten. Auf ihren Wahl­pla­katen warnte die SPD vor dem «Ter­ro­rismus» der «berüch­tigten Spar­ta­kus­rotte». Während des Wahl­kampfes war Gustav Noske noch «Volks­be­auf­tragter für Heer und Marine», drei Wochen später durfte er sich Reichs­wehr­mi­nister nennen. Unter seinem Befehl mar­schierten am 14. Januar Truppen nach Berlin, in einem Aufruf an die Bevöl­kerung ließ Noske aus­richten: «Neuen Gewalt­tä­tig­keiten der Spar­ta­kus­leute muss durch die Waf­fen­gewalt vor­ge­beugt werden.»

Noske ließ vor­beugen. Am fol­genden Abend würden die Mörder mit Schul­ter­stücken Rosa Luxem­burgs Leiche in den Land­wehr­kanal werfen und behaupten, dass sie Karl Lieb­knecht «auf der Flucht» erschossen hätten.

Bun­des­prä­sident Frank-Walter Stein­meier lobte in seiner Rede im Bun­destag am 9. November die Revo­lution – «Auf­bruch in die Moderne», «Viele ihrer Errun­gen­schaften prägen heute unser Land». Nicht nur gleiches Wahl­recht, auch für Frauen, «auch Grund­steine des modernen Sozi­al­staats legte diese Revo­lution: Acht­stun­dentag, Tarif­part­ner­schaft, Mit­be­stimmung durch Betriebsräte – all das steht für den sozialen Fort­schritt, der damals inmitten der Nach­kriegs­wirren begann» – so hört es sich an, wenn ein Bun­des­prä­sident auf die Geschichte blickt, um uns zu erklären, dass wir in der besten mög­lichen Gesell­schaft leben.

Völlig falsch ist es nicht, was Stein­meier sagt: Die Bevöl­kerung erkämpfte damals soziale Ver­bes­se­rungen und demo­kra­tische Rechte. Was er unter­schlägt: Wofür die Mas­sen­be­wegung kämpfte und was die SPD-Führer den Men­schen ver­sprachen war etwas anderes. Pro­duktion für die eigenen Bedürf­nisse statt Acht-Stunden-Aus­beutung, die Wirt­schaft in gesell­schaft­lichem Eigentum statt «Mit­be­stimmung». Die Errun­gen­schaften der Novem­ber­re­vo­lution konnte die Bewegung nur erkämpfen, weil sie ein ganz anderes Ziel als unsere heutige «Demo­kratie» im Sinn hatte, die «Demo­kratie» der Wei­marer Natio­nal­ver­sammlung war nur das Zuge­ständnis, um die Men­schen ruhig­zu­stellen, weil Kanonen und Maschi­nen­ge­wehre dafür nicht ausreichten.

Noch etwas anderes sagt uns das Bild von der «Geburts­stunde der Demo­kratie»: Sie baut darauf auf, dass SPD-Führer reak­tionäre Frei­korps revo­lu­tionäre Arbeiter nie­der­schlagen ließen. Sie baut auf auf dem Mord an Lieb­knecht und Luxemburg. Nach der Befreiung vom Faschismus wurde der deutsche Impe­ria­lismus erneut zur Demo­kratie gezwungen – und wieder gehörte dazu: Die Bewegung gegen die Remi­li­ta­ri­sierung unter­drücken, KPD ver­bieten, Kom­mu­nisten ein­sperren oder mit Berufs­verbot ver­folgen. So wurde 1919 das geboren, was unsere Regierung eine Demo­kratie nennt: Die Kon­zerne behielten die Kon­trolle über den Staat, die revo­lu­tio­nären Arbeiter begruben ihre Toten.

Olaf Matthes
UZ vom 11. Januar 2019


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